Sie befinden sich hier

Inhalt

Mitzevs Inversionsräume und die erträgliche Leichtigkeit des Seins

Wie neuere Studien belegen, macht sich in der an Verfettung leidenden Wohlstandsgesellschaft ein neuer Körpertypus breit: Zunehmend hüftlose Körper entwickeln sich in Richtung Kegel und Zylinder. Der Vorwohlstandskörper mit erkennbarer Taille ist latent vasenförmig. Wenn es um die Orientierung im Raum geht, und hiervon soll im Folgenden die Rede sein, funktioniert der Körper als mehr oder weniger flache Schachtel. Oben und unten, links und rechts, hinten und vorne, innen und außen – die elementare Orientierung im Raum erfolgt in Bezug auf den Körper. Die Hauptrichtungen, die unser Körper zu unterscheiden vermag, entsprechen den in einer Schachtel angelegten Koordinaten. Die Körperschachtel ist das Bezugsmodell, das unser Raumverständnis und unsere Orientierung im Raum bestimmt. Verfügte der Mensch etwa über einen im Raum schwebenden Kugelkörper mit einem die ganze Kugel umspannenden Wahrnehmungshorizont, einer Art Rundum-Auge, würde das Koordinatensystem, das sich abstrakt in der Vorstellung des euklidischen Raumes niederschlägt, fundamental irritiert und aufgehoben.
 
Eine heitere Irritation der Orientierung betreibt Vincent Mitzev. Mit seinen Inversionsräumen kon-struiert er utopische Orte, die im Sinne der Bedeutung von „utopisch“ gleichzeitig „Nichtort“ und ima-ginierter Idealzustand sind. Mitzevs Irritationsstrategien zielen dabei nicht auf den menschlichen Körper als ein womöglich zu veränderndes Orientierungsmodell; Mitzev ist weder restitutiver Diätetiker, noch fortschrittsfroher Körper-Developer, sondern der Körper bleibt für ihn Maßstab der Orientierung, und gerade dadurch evoziert er desorientierte Orte und imaginäre Zustände, die den Körper fröhlich und ironisch seiner Schwere entheben.
 
Bereits die im Jahr 2000 entstandene Arbeit „Hasenbergl“ befasst sich mit Orientierung. An unter-schiedlichsten Orten, vom Münchener Marienplatz über das Elbufer in Hamburg bis zum Strand auf Hawaii, wurden Wegweiser aufgestellt, die in Richtung Hasenbergl, Münchens „Bronx“, zeigten. Der im globalen Maßstab erfolgte Hinweis empfiehlt die städtebauliche und gesellschaftliche Peripherie der weltweiten Aufmerksamkeit. Die Orientierung hin auf einen Punkt, der weltweit unbekannt ist, produ-ziert Desorientierung: Warum steht der Wegweiser hier? Die Richtung des Wegweisers stimmt, seine Bedeutung vor Ort ist sinnlos.
 
Eine andere Form der Desorientierung erzeugt „Fast schwerelos“, „eine schräg montierte Telefonzelle, von der aus man kostenlos telefonieren kann“. Die Kippung der Telefonzelle irritiert die Wahrnehmung und die bestehende Ordnung, verkörpert durch die Deutsche Telekom und deren Bemühen, Telefonzellen senkrecht aufzustellen. Bereits Tatlins „Turm der Dritten Internationalen“ verwies mit seiner diagonalen Schräge auf Dynamik, Fortschritt und Utopie. Bei Mitzev wird das diagonale Großversprechen der Utopisten heruntergeholt aufs kostenlose Telefonieren und erscheint als montagetechnischer Betriebsunfall. Die schräge Telefonzelle funktioniert aber auch als Maßstabsfigur. Wer sie länger be-trachtet und an die deutsche Ordnung glaubt, könnte dazu neigen, sie als gerade und die Umgebung als schräg wahrzunehmen.
 
Die gewohnte Ordnung und, wie bereits festgestellt, der Körper liefern den Maßstab für die elementare Orientierung im Raum. Das Verhältnis des Körpers zum Raum und zur Schwerkraft vermag darüber hinaus auch Auskunft über die menschliche Befindlichkeit zu geben; dies legt zumindest eine Reihe von Metaphern und Redewendungen nahe. So kann die Rede von der „Befindlichkeit“ als Symptom für den Zusammenhang zwischen Gefühlslage und Aufenthaltsort angesehen werden. Adjektive wie „erleichtert“, „unbeschwert“ oder auch das euphorische „himmelhoch jauchzend“ weisen daraufhin dass dann, wenn der Körper der Schwerkraft entkommt und nach oben Richtung Himmel rückt, ein potentielles Glücksgefühl heraufbeschworen wird.
 
Mitzevs Inversionsräume evozieren dieses Glücksgefühl durch Desorientierung und die Produktion von imaginären Orten, die den Körper dem Himmel näher rücken. Sein „Blitzableiter“ im Obergeschoss der Kunstakademie holt gewissermaßen das Draußen nach Drinnen und das Dach herunter in den Raum: In der Ecke des Ateliers installiert er eine Kiesfläche und einen Blitzableiter, wie man sie gewöhnlich von Flachdächern kennt. Der Anblick der Installation suggeriert: Dies ist ein Dach. Doch ein Blitzableiter im Innenraum ist sinnlos. Und die vermeintliche Vernunft kollidiert mit dem Eindruck, den der Anblick von Wänden, Decke und Fenster vermittelt: Dies ist ein Zimmer. Weil die Installation in einer Kunst-akademie eingerichtet wurde, liegt eine kunstreflexive, gleichsam allegorische Interpretation des „Blitzableiters“ nahe: Kunst ist längst nicht mehr der Blitz, der die Welt entzündet, sondern allenfalls noch Blitzableiter.
 
Bereits in „Blitzableiter“ wird deutlich, dass die elementare Orientierung nicht nur über den Körper, sondern auch über Zeichen erfolgt. In diesem Sinne kann auch die Skulptur „Dachlandschaft“ gelesen werden. Die mit Dachziegeln bedeckte Stütze ist ein materiales Ding, aber auch ein Zeichen, das den Ort, an dem sie sich befindet, als Dach definiert. In größeren Dimensionen, aber durchaus ähnlich funktioniert die im Rahmen eines Kunstwettbewerbs entworfene „Dachlandschaft 1“: Mitzev schlägt vor, begeh- und besetzbare Hausdächer als Aufenthaltsort im öffentlichen Raum zu konstruieren. Nur wenige Meter über dem Boden suggeriert das flache Hausdach dem Benutzer, er befinde sich über den Dächern, mit freiem Blick über die Häuser und dem Himmel näher.
 
Am Rande: Bei „Dachlandschaft 1“drängt sich der Vergleich mit einer Arbeit Vito Acconcis auf, die dieser 1990 ebenfalls für Regensburg entworfen hatte und die Mitzev, wie er versichert, nicht kannte. Der Vergleich zeigt das Spezifische von Mitzevs Vorgehen. Während Acconci Häuser im Boden ver-sinken lässt, um sie gleichsam zu erden, hebt Mitzev den Hausdachbesetzer nach oben auf einen imagi-nären Platz über den Dächern der Stadt.
 
Die radikalste Irritation produziert Mitzev in seiner Installation „Schwerelos“. Er montiert den Bretter-fußboden eines Ateliers an die Decke, streicht den Boden weiß und verkehrt alles, was sich in dem Raum verkehren lässt: Die Lampen ragen nun senkrecht vom Fußboden aus nach oben, ein Eimer an der Decke weist mit der Öffnung nach unten, der Heizkörper hängt über dem Fenster, das Waschbecken in Deckennähe kopfunter. Das Auge liest die solchermaßen verkehrt installierten Elemente als Orientie-rungschiffren und ist überzeugt, zu wissen, wo oben und unten ist. Sobald aber ein Mensch den Raum betritt kollidieren die Zeichen, zumal dann, wenn sie auf Video übertragen werden, so dass der Betrachter sich irritiert zu fragen beginnt, ob er seinen Augen trauen kann. Die Suggestion der Verkehrung ist so stark, dass es erscheint, als ob die Menschen im Raum der Schwerkraft entrückt, mit dem Kopf nach unten, an der Decke spazieren. Ein derartiger Zustand war bisher den Astronauten im All vorbehalten. Mitzev hingegen produziert Schwerelosigkeit imaginär durch das Aufeinanderprallen sich wi-dersprechender Zeichen. Die Enttäuschung, die im Imaginären angelegt ist, wird durch Ironie und die Freiheit der Imagination kompensiert. Die Utopie bleibt Utopie. Lächelnder Trost: Selbst das Reale entpuppt sich als Zeichen. Eine Ahnung von der erträglichen Leichtigkeit des Seins stellt sich ein.
 
Heinz Schütz

    InversionsräumeInversion Spaces

Kontextspalte